Ruth Van de Gaer Sturzenegger ist eine bemerkenswerte Frau, die es wagt, ihre tief erschütternde Geschichte zu teilen. Nachdem sie einem Online-Anlagebetrug zum Opfer gefallen war, der sie fast eine Million Euro und ihr Vertrauen in die Welt kostete, hat sie es geschafft, sich aus dieser Krise herauszukämpfen. Statt sich von den Tätern brechen zu lassen, schrieb sie das Buch „Nichts gegen eine Million“ und rief die Selbsthilfeplattform „The Bright You“ ins Leben, um anderen Betrugsopfern Unterstützung zu bieten und Hoffnung zu geben. Im Interview mit digital-liechtenstein.li berichtet Ruth Van de Gaer Sturzenegger offen über ihre Erfahrungen und den Weg zurück zu neuem Selbstvertrauen.
Frau Van de Gaer Sturzenegger, können Sie uns zunächst erzählen, wie es überhaupt dazu kam, dass Sie auf eine betrügerische Online-Tradingplattform gestossen sind? Was hat Sie anfangs dazu bewogen, dort zu investieren?
Ich bekam wiederholt eine Messenger Nachricht einer indirekt Bekannten, die davon schwärmte, dass sie 250 EUR investierte und nun völlig unkompliziert einen Gewinn von 2’700 ungerade bereits auf ihr Konto überwiesen erhalten habe. Bis anhin hatte ich diese Nachricht stets ignoriert. Jedoch war ich in einer Situation, in der ich zwar Geld hatte, jedoch verdiente ich nichts, und so wusste ich, dass ich etwas unternehmen musste, um für die Zukunft und meine Familie vorzusorgen. Denn mit den stetig steigenden Lebenskosten war mir klar, dass das Geld schnell weniger werden würde und es nicht bis an mein Lebensende reicht. Mein Geschäft war mit Covid zusammengebrochen, und ich schaffte es einfach nicht mehr, es wieder so richtig in Schwung zu bringen und zu stabilisieren. Da bekam ich diese Messenger Nachricht erneut. Ich sah es als Gelegenheit, denn 250 EUR konnte ich verkraften, um zu schauen, ob es wirklich funktionierte. Nach einer ersten Investition von 250 Euro schien alles professionell und vertrauenswürdig. Der sogenannte „Senior Broker“ gab sich sehr kompetent und führte mich auch in die Tradingplattform ein, damit ich selbst meine Trades nachverfolgen konnte und eine Kontrolle hätte. Leider stellte sich später heraus, dass dies alles Teil einer perfiden Täuschung war.
Wann haben Sie das erste Mal den Verdacht gehabt, dass etwas nicht stimmen könnte? Gab es bestimmte Warnsignale, die Sie im Nachhinein anders bewerten würden?
Rückblickend ist es klar, dass es einige Warnsignale gab, die ich hätte ernster nehmen müssen. Zum Beispiel die ständige Dringlichkeit, mehr zu investieren, und die immer wiederkehrenden Versprechungen über angeblich sichere und hohe Gewinne. Natürlich hinterfragte ich alles, jedoch zum einen hatte ich die Tradingplattform vor Augen, die tatsächlich schöne Gewinne aufzeigte und andererseits war ich ein offenes Buch, denn wenn ich etwas suspekt und unlogisch empfand, sprach ich ihn direkt darauf an. Und so hatte er ein leichtes Spiel, immer wieder ein angepasstes Drehbuch zu benutzen. Auch die Tatsache, dass ich von meinem Umfeld isoliert wurde, war im Nachhinein ein deutliches Zeichen. Da ich es für sinnvoll hielt, die Angelegenheit nicht an die grosse Glocke zu hängen und erst darüber zu sprechen, wenn ich mein Ziel erreicht hatte, schien alles unauffällig. Seine Begründung beruhte auf der Annahme, dass Neid oft entsteht, wenn es um Geld geht. Im Moment der Manipulation war ich jedoch blind vor Vertrauen und dem Wunsch, das Richtige für meine Familie zu tun.
Wie haben Sie den emotionalen und psychologischen Druck während dieser Zeit erlebt, insbesondere im Kontakt mit dem „Senior Broker“?
Der emotionale Druck war enorm. Dieser „Senior Broker“ verstand es meisterhaft, meine Ängste und Hoffnungen auszunutzen. Er gab mir das Gefühl, dass er nur mein Bestes wollte, was natürlich nicht der Fall war. Ich wurde Schritt für Schritt in ein Netz aus Lügen und Täuschungen verstrickt. Der Broker isolierte mich auch von Freunden und Familie, sodass ich mich betreffend des Deals nur noch ihm anvertraute. Schliesslich kümmerte er sich um die Trades auf dieser vermeintlichen Tradingplattform, die ich stets auch mitverfolgen konnte.
Wie hat sich das Erlebnis auf Ihr Selbstwertgefühl und Ihre psychische Gesundheit ausgewirkt?
Es war eine zutiefst traumatische Erfahrung, die mein Selbstwertgefühl erschütterte. Ich fühlte mich naiv und schuldig, weil ich in diese Falle getappt war. Die psychische Belastung war enorm. Ich brauche noch Zeit, bis ich wieder volles Vertrauen in mich selbst und auch in andere Menschen fassen kann. Doch diese Erfahrung hat mir auch gezeigt, wie stark ich sein kann, wenn ich mich den Herausforderungen stelle. Heute nehme ich nichts mehr als selbstverständlich hin, schon gar nicht, dass es einem gut geht. Diese Erkenntnis hat mich dankbarer und glücklicher gemacht. Ich habe verstanden, dass nur ich allein für mein Glück verantwortlich bin. Das Leben hat mir die Wahl gelassen, wie ich mit diesem Trauma umgehe – und ich habe mich entschieden, aufzustehen und meinen Beitrag zur emotionalen Prävention in der Gesellschaft sowie zur mentalen Unterstützung anderer Betroffener zu leisten. Nun stehe ich vor Menschen und teile meine Erfahrungen – auch wenn ich weiss, dass manche kritisch darüber denken. Doch mir ist klar geworden: Wenn ich etwas verändern möchte, muss ich an mich selbst glauben, unabhängig davon, was andere von mir denken.
Was war der Wendepunkte, an dem Sie beschlossen haben, Ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen und sich nicht von den Betrügern brechen zu lassen?
Der Wendepunkt kam, als mir bewusst wurde, dass niederträchtige Verbrecher es fast geschafft hätte, mich zu brechen – bis zu dem Punkt, an dem ich sogar Suizid in Erwägung zog. Dieser Moment war der erschütterndste meines Lebens. Doch genau an diesem Tiefpunkt erkannte ich, dass ich die Kontrolle über mein Leben und meine Entscheidungen zurückgewinnen musste. Der Gedanke, anderen Menschen zu helfen, die Ähnliches durchgemacht haben, gab mir schliesslich die Kraft, wieder aufzustehen und mein Leben in neue Bahnen zu lenken.
Wie entstand die Idee zu „The Bright You“, und was waren die ersten Schritte, um diese Selbsthilfeplattform ins Leben zu rufen?
Die Idee entstand in einem Gespräch mit einem Cybercrime-Spezialisten. Ich fragte ihn beiläufig, ob es Selbsthilfegruppen für Menschen wie mich gäbe, die Opfer von Online-Betrug geworden sind. Als er dies verneinte, wusste ich, dass es hier eine grosse Lücke gibt, die gefüllt werden muss. Zusammen mit meiner Co-Autorin und sehr guten Freundin Ayda Ergez, die mich während der letzten beiden stürmischen Jahren stets moralisch unterstützte und mich begleitete, beschlossen wir, eine Plattform zu schaffen, die Betroffenen einen Auffangort, mentale Unterstützung und eine Gemeinschaft bietet.
Wie haben Sie „The Bright You“ konzipiert, um den spezifischen Bedürfnissen von Betrugsopfern gerecht zu werden?
Wir wollten sicherstellen, dass „The Bright You“ nicht nur ein Ort ist, an dem Betroffene Trost, Unterstützung und Aufklärung finden, sondern auch einen Raum schaffen, in dem sie sich sicher und verstanden fühlen. Die Arbeit der Psychologen ist von unschätzbarem Wert und in vielen Fällen unverzichtbar. Doch was könnte besser sein, als sich mit Menschen auszutauschen, die das Erlebte bis ins kleinste Detail nachfühlen und verstehen können? Wir haben mittlerweile unseren gemeinnützigen Verein mit dem Namen „The Bright You, Verein für Onlinebetrugs-Geschädigte“ gegründet, der im Handelsregister eingetragen ist. Den Namen „The Bright You“ haben wir beibehalten, da er eine tiefere Bedeutung trägt: Mit ihm stellen wir uns bewusst gegen das „Dark Net“ und symbolisieren, dass es nach einem solchen dunklen Erlebnis wieder eine leuchtende, helle Seite im eigenen Sein gibt, die zurück an die Oberfläche geholt werden muss. Der Verein „The Bright You“ verfolgt ausschliesslich gemeinnützige Zwecke im Sinne der Förderung der gesellschaftlichen Sicherheit. Das Ziel des Vereins ist, Betroffenen von Online-Betrug durch emotionale Unterstützung, wie z.B. unsere Selbsthilfe-Calls, und Präventionsarbeit zu helfen.
Unser Verein bietet Talks an Schulen für Studierende und junge Erwachsene an, um sie noch weiter zu sensibilisieren. Mit dieser emotionalen Präventionsmassnahme möchten wir junge Menschen noch weiter befähigen, sich sicher im Internet zu bewegen. Ausserdem bauen wir mit unserem Verein eine geschützte Anlaufstelle in Form einer Onlinebetrugs- Hotline auf, die nach dem Motto „Von Geschädigten für Geschädigte & Gefährdete“ funktioniert. Durch den direkten Austausch, in dem auf die Erfahrungen der ehemaligen Betroffenen zurückgegriffen wird, sollen zukünftige Betrugsfälle verhindert werden. Wir freuen uns auf viele Mitglieder oder Gönner in unserem Verein „The Bright You“, unabhängig davon ob Betroffene oder Nicht-Betroffene, damit wir mit unseren Veranstaltungen noch mehr Aufklärung, Unterstützung und Zusammenhalt in einer zunehmend digitalisierten Welt erreichen können. Alleine schaffen wir es nicht, den Betrügern ihre Geschäfte zu vereiteln. Denn: Onlinebetrug geht uns alle etwas an!
Wie wichtig war es für Sie, Ihre Erfahrungen in Form einer Biografie zu teilen, und was erhoffen Sie sich von der Veröffentlichung Ihres Buches “Nichts gegen eine Million“?
Das Schreiben war für mich eine Therapie und es half mir bei der Verarbeitung. Es war mir ein grosses Anliegen, meine Geschichte offen und ehrlich zu teilen. Einerseits, um das Bewusstsein für die Gefahren im Internet zu schärfen, andererseits, um Menschen in ähnlichen Situationen Mut zu machen und ihnen Trost zu spenden. In meinem Buch spreche ich auch darüber, welchen täglichen Routinen ich folge, um die Tiefs zu überwinden, damit sie mit der Zeit immer weniger werden. Dieses Trauma wird jede und jeden Betroffenen ein Leben lang begleiten, aber durch eine bewusste Auseinandersetzung ist es möglich, Abstand zu gewinnen und nicht jedes Mal mental in den Abgrund zu stürzen. Ich hoffe, dass meine Biografie Menschen ermutigt, sich nicht zu schämen, Hilfe zu suchen und zu erkennen, dass sie nicht allein sind. Mit meinem Schritt, öffentlich mein Gesicht zu zeigen, möchte ich allen Betroffenen Mut machen, aus ihrem Versteck zu treten und gemeinsam die Gesellschaft wachzurütteln und zu sensibilisieren. Um langfristig mit einem solch traumatischen Erlebnis umgehen zu können, ist es entscheidend, es zu verarbeiten und nicht zu verdrängen.
Was raten Sie Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden und Opfer von Online-Betrug geworden sind?
Zunächst einmal: Sie sind nicht allein, und es gibt absolut keinen Grund, sich zu schämen, denn Online-Betrug kann jedem passieren. Es ist wichtig, sich sofort Unterstützung zu holen – sei es bei Freunden, der Familie oder spezialisierten Beratungsstellen. Dokumentieren Sie alles, was passiert ist, und erstatten Sie Anzeige bei den zuständigen Behörden. Melden Sie sich bei uns auf www.thebrightyou.com an, damit wir persönlich mit Ihnen in Kontakt treten und Sie zu unseren Selbsthilfe-Treffen einladen können. Wenn Sie den schwierigen Schritt zur Polizei gehen, können wir Sie begleiten oder Sie an eine Stelle weiterleiten, die Sie dabei unterstützt. Auch wenn die Polizei derzeit möglicherweise überfordert ist und nicht immer so reagiert, wie es wünschenswert wäre, ist es dennoch wichtig, diese Fälle zu melden. Zum einen, um andere zu warnen, und zum anderen, damit die Behörden erkennen, dass mehr Ressourcen für die Bekämpfung solcher Online-Betrugsfälle benötigt werden. Die volkswirtschaftlichen Kosten werden explodieren, wenn Betroffene aus Scham schweigen und in eine Depression oder Schlimmeres fallen. Vor allem aber: Geben Sie nicht auf. Es gibt Wege aus dieser Krise, auch wenn sie im Moment noch nicht sichtbar erscheinen. Es ist uns ein Herzensanliegen, dass wir von den Geschädigten keine Gebühren für unsere Dienstleistungen verlangen.
Was sind Ihre Pläne für die Zukunft, sowohl persönlich als auch im Hinblick auf „The Bright You“?
Persönlich arbeite ich weiterhin intensiv daran, das Erlebte zu verarbeiten und meine Erfahrungen in positive Energie umzuwandeln, um wieder finanziell und emotional stabil zu werden.
Für unseren Verein möchten wir so viele Mitglieder wie möglich gewinnen. Deshalb möchten wir besonders auch Unternehmen ansprechen und motivieren, bei unserem Verein Mitglied oder Gönner zu werden. Denn wie ich schon erwähnt habe, kann Onlinebetrug jeden treffen und ein Mitarbeiter, der sich in einem solchen Trauma befindet, erlebt oft eine Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit. Viele Betroffene, die sich bei uns melden, finden oft kaum die Kraft, ihren Alltag zu bewältigen – sei es im Privat- oder Berufsleben. Wir wollen sie erreichen und auf ihrem Weg zurück ins Leben begleiten. Darüber hinaus haben wir es uns zum Ziel gesetzt, verstärkt in die emotionale Präventionsarbeit zu investieren. Es ist wichtig, Menschen schon im Vorfeld vor diesen Betrügereien zu warnen und sie zu sensibilisieren. Besonders junge Erwachsene, die zwar mit der Technologie aufwachsen, sind dennoch nicht vor den raffinierten Tricks der Betrüger sicher. Diese passen ihre Methoden gezielt auf jede Altersgruppe an. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, das Thema zu enttabuisieren und es in den öffentlichen Diskurs zu bringen. Wir können das nicht allein schaffen – wir brauchen die Unterstützung der gesamten Gesellschaft, der Medien und der Behörden. Nur gemeinsam können wir ein Bewusstsein schaffen und Betroffenen die emotionale Hilfe zukommen lassen, die sie dringend benötigen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Entschlossen gegen Cybercrime
„The Bright You, Verein für Onlinebetrugs-Geschädigte“, wurde von Ruth Van de Gaer Sturzenegger und Ayda Ergez gegründet, um Betroffene von Online-Betrug gezielt zu unterstützen, ihnen in schweren Zeiten Hoffnung und Hilfe zu bieten und Mut zuzusprechen. Unser Ansatz verbindet technologische Prävention mit emotionaler Unterstützung, da wir überzeugt sind, dass beide Aspekte untrennbar miteinander verbunden sind. Unser Ziel ist es, den Betroffenen auf der emotionalen Ebene zu helfen und gleichzeitig präventiv dafür zu sorgen, dass solche traumatischen Erfahrungen verhindert werden können. Aus diesem Grund suchen wir aktiv die Zusammenarbeit mit Behörden und Institutionen, um gemeinsam durch Informations- und Präventionsveranstaltungen sowohl die technologische Aufklärung als auch die emotionale Prävention voranzutreiben. Zur Website